In der Migrationspolitik haben Polemik und Populismus einmal mehr Hochkonjunktur. Dafür ist das Thema erstens zu komplex und zweitens viel zu wichtig, um sich damit auf Kosten anderer zu profilieren.

Das Thema Migrationspolitik (Definition s. Box) bewegt mich, die Aussagen von rechts finde ich verletzend, selbst wenn ich nicht persönlich betroffen bin.
Ich wäre unehrlich, wenn ich an dieser Stelle ein scheinbar einfaches Rezept zum Besten geben würde, wie man die Herausforderungen lösen kann. Wenn ich aber Marco Chiesa zuhöre, wie er über «die Ausländer» spricht, frage ich mich, ob er sich je vorgestellt hat, was das bei dieser Bevölkerungsgruppe auslöst. Sie würden gemäss dem SVP-Präsidenten «die Strassen verstopfen, das Gesundheitssystem belasten und die Wohnungsnot verschärfen». Hat sich die SVP überlegt, dass damit alle Menschen ohne Schweizer Pass gemeint sind? Auch diejenigen, welche kranke Menschen pflegen, unsere Wohnungen und Büros reinigen oder als IT-Fachkräfte mithelfen, die CS in die UBS zu integrieren? Menschen, die in der Geschichte der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert massgeblich dazu beigetragen haben, dass wir über einen hohen Wohlstand verfügen?
Die verletzende Polemik von rechts geht gar nicht und trotzdem scheint diese Meinung Zulauf zu haben. Wie kann das sein?
Die «Wir schaffen das»- und «Alles-ist-möglich»-Mentalität von links hilft leider wenig, zweifelnde Menschen von einer integrativen offenen Haltung in Migrationsfragen zu überzeugen – insbesondere ohne die Herausforderungen ehrlich und klar zu benennen, geschweige denn konkrete Lösungsansätze zu präsentieren. Erst recht ist dieser Ansatz nicht zielführend, wenn die Zahl der Netto-Zuwanderung des vergangenen Jahres ohne sachliche Kontextualisierung breit publiziert wird: 2022 kamen rund 80'000 Menschen in die Schweiz.
Polemik bedeutet für mich, die Zahl der Netto-Zuwanderung ständig zu wiederholen bis die Leute Angst bekommen. Stattdessen ist es die Aufgabe der Politiker:innen zu erklären, dass in der Schweiz aus demografischen Gründen in den kommenden Jahren 1 Mio. Arbeitnehmende in Rente gehen werden. Die grösste Bevölkerungsgruppe der Schweiz, die Babyboomer, werden pensioniert, geburtenschwache Jahrgänge treten in den Arbeitsmarkt ein und können die so entstehenden Verluste nicht kompensieren. Mit dem inländischen Arbeitnehmer:innen-Potenzial können wir diese Lücke also offenbar nicht schliessen. Im Herbst 2022 waren gemäss einer Studie 120'000 Stellen unbesetzt und es werden jährlich mehr. (Quelle: Konjunkturforschungsstelle ETH). Was hat bezüglich Migration eine höhere Sog-Wirkung als so viele offene Stellen, die dringend besetzt werden müssen? Offene Stellen nicht besetzen zu können – und da würde mir wohl vom Landwirt über den Gewerbler bis zur Chefin von economiesuisse beipflichten – bedeutet Umsatzverlust und/oder Qualitätsprobleme. Und folglich leidet irgendwann das Wirtschaftswachstum der Schweiz und unser Wohlstand.
So gesehen müssten wir doch jeder und jedem der 80'000 Netto-Zuwander:innen dankbar sein. Fairerweise muss man anfügen, dass davon knapp 2/3 ins Erwerbsleben einsteigen. Das hat u.a. auch mit dem Familiennachzug zu tun, da die Menschen verständlicherweise nicht alleine in die Schweiz reisen und nicht alle Partner:innen innert kurzer Zeit auch erwerbstätig werden.
In der Energiepolitik spricht man vom Nutz-Schutz-Dilemma, wenn der Nutzen von grossen Solarparks in den Alpen dem Naturschutz gegenübergestellt wird. Eigentlich stellt sich in der Migrationspolitik eine ähnliche Frage. Wie stark möchten wir die Schweiz vor einer hohen Zuwanderung schützen und sind dafür bereit, auf Wohlstand zu verzichten? Oder umgekehrt: Wenn wir weiterhin einen hohen Wohlstand wollen, müssen wir uns wohl an die Vorstellung einer 10-Millionen-Schweiz gewöhnen.
Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob dieser Ansatz mehrheitsfähig ist. Mir scheint nämlich, dass die Weichen in Bereichen wie Infrastruktur, Wohnungsbau, Gesundheitswesen von den politischen Entscheidungsträger:innen nicht in Richtung 10-Millionen-Schweiz gestellt werden. Und das eine geht nicht ohne das andere. Gleichzeitig müssten alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um das inländische Arbeitnehmer:innen-Potenzial optimal auszunützen. Das geschieht jedoch – wenn überhaupt – auch nur zögerlich.
Ein heikles Thema zum Schluss: Wie wollen wir mit Ausländer:innen umgehen, die unsere Gesetze nicht einhalten? Da habe ich eine klare Haltung: Ausländer:innen, die schwere Straftaten begehen, sind unter Berücksichtigung des gültigen Rechts konsequent auszuschaffen. Alles andere ist Wasser auf die Mühlen der SVP und trägt zu mehr Ausländerfeindlichkeit bei. Mit Einzelfällen Polemik zu machen und alle Ausländer:innen in Sippenhaft zu nehmen, ist unfair und muss aufhören.
Was ist mit Migrationspolitik gemeint und was fällt nicht unter den Begriff? EU/EFTA-Staatsangehörige geniessen die volle geographische Mobilität. Das heisst, sie können ihren Wohnsitz jederzeit in die Schweiz verlegen. Für die Einreise wird ein gültiger Reisepass oder eine gültige Identitätskarte benötigt. Nach der Einreise muss ein Aufenthaltsgesuch gestellt werden. Wenn die Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Bewilligung erfüllt sind, stellt das Migrationsamt den entsprechenden Ausländerausweis aus. Besteht ein gültiger Arbeitsvertrag, steht dem Aufenthaltsrecht im Normalfall nichts im Weg. Nichterwerbstätige EU/EFTA-Bürger:innen, die ihren Wohnsitz in die Schweiz verlegen möchten, müssen über genügend finanzielle Mittel verfügen, damit sie nicht sozialhilfeabhängig werden und dem Aufnahmestaat zur Last fallen. Zusätzlich müssen sie über einen Krankenversicherungsschutz verfügen, der alle Risiken (auch Unfall) abdeckt. Für Drittstaatenangehörige ist die Migration in die Schweiz komplizierter. Sie müssen einen gültigen Arbeitsvertrag plus eine Bewilligung bezüglich Kontingent (arbeitsmarktlicher Vorentscheid) vorweisen können. Dieser wird kantonal ausgestellt (Amt für Wirtschaft und Arbeit), bezieht sich jedoch auf die jährlich durch den Bund gesprochenen Drittstaaten-Kontingente für sogenannte «Spezialist:innen». Oft wird Migrations- und Asylpolitik vermischt. Asylpolitik beschäftigt sich jedoch mit anderen Grundsatzfragen wie beispielsweise der Definition des Flüchtlings (Genfer Konvention) und dem Asylverfahren (wer wird in der Schweiz als Flüchtling aufgenommen). |
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